Kaum eine Frage scheint für die Sorben so zentral wie die Zukunftsfrage. Spekulationen über das vermeintlich bevorstehende „Aussterben“ des kleinen Volkes in der Lausitz, aber auch optimistische Prognosen eines „Revivals“ sorbischer Kultur und Sprachräume prägen die Diskurse über die Sorben bereits seit Jahrhunderten. „Es ist schon ein Wunder, dass wir noch da sind!“, lässt Kito Lorenc in seinem 1994 uraufgeführten Drama „Die Wendische Schiffahrt“ seine Figur Benno Rühmsack, die Karikatur eines sorbischen Nationalisten, wiederholt und in verschiedenen historischen Epochen ausrufen. Das satirische Stück markiert damit die Frage, ob und wie der eigene Fortbestand zu sichern ist, als unhintergehbaren Kern sorbischer Selbstreflexion und -beschreibung.
Die Frage nach der Zukunft sowie der generellen Zukunftsfähigkeit des Sorbischen hat in der Vergangenheit immer wieder sehr unterschiedliche, nicht selten miteinander konkurrierende Antworten hervorgebracht – von Sorben und Nichtsorben, aus der Innen- und der Außensicht, in politischen Diskursen, in wirtschaftlichen Prognosen, in der Literatur und den Künsten, in sprach- und kulturpolitischen Debatten und vielen anderen Kontexten.
Auch in der Gegenwart zeugen öffentlichkeitswirksame Kampagnen, etwa um das von der Domowina definierte Ziel der „100 000 Sorbisch Sprechenden bis zum Jahr 2100“, Diskussionsformate wie die Reihe „Serbska debata“ [2024], aber auch Filme (z.B. „Serbska utopija“ [2023] von Erik Schiesko) oder Theaterstücke (z.B. „Der Club der geheimen Sorben“ [2024] von Georg Genoux) von der anhaltenden Aktualität der großen Fragen: Wie lange gibt es die Sorben noch? Wie viele gibt es noch? Und wie soll es weitergehen? Während einige Zukunftsdiskurse den Erhalt bzw. die Revitalisierung der sorbischen Sprache als zentrale und entscheidende Problemstellung begreifen, fokussieren andere das Spannungsfeld „Abgrenzung vs. Öffnung“ der sorbischen Community oder knüpfen die Zukunftsfähigkeit des Sorbischen an ökologische, ökonomische und demographische Faktoren. Zugleich wurden und werden die Erzählmuster der Utopie oder Dystopie als künstlerische Zugänge zu sorbischen Zukünften erprobt. Immer wieder adressiert der Diskurs auch Hoffnungen und Befürchtungen mit Blick auf „die junge Generation“ und die mit ihr verbundenen (populär-)kulturellen Entwicklungen.
Zu beachten ist darüber hinaus, dass die Zukunft des Sorbischen von der Frage nach der Zukunft der Lausitz kaum zu trennen ist. Gegenwärtig ist die Lausitz Modellregion und Projektionsfläche einer ganzen Reihe zum Teil höchst unterschiedlicher Prognosen, Entwürfe und Visionen einer „Zukunft auf dem Land“ (Langner/Weiland 2022). Sie steht gleichermaßen im Fokus, wenn von den Risiken des Strukturwandels und von politischen Radikalisierungstendenzen in ländlichen Regionen Ostdeutschlands die Rede ist, oder aber wenn innovative Planungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für ein zukünftiges, ökologisch nachhaltiges „Gutes Leben auf dem Land“ (Nell/Weiland 2021) ins Auge gefasst werden. Auch diese mit der Lausitz verbundenen Zukunftsprojektionen gilt es zu historisieren und daraufhin zu befragen, welche Rolle die Sorben in ihnen spielen (oder nicht spielen).
Trotz der Vielfalt und Dringlichkeit sorbischer Zukunftsentwürfe hat eine kulturwissenschaftliche und ideengeschichtliche Aufarbeitung derselben bisher noch kaum stattgefunden. Im Sinne einer „historischen Zukunftsforschung“ (Hölscher 2016) oder einer „Geschichte der Zukunft“ (Radkau 2017; Seefried 2023) müsste ein solches Vorhaben die in verschiedenen Diskursbereichen vorzufindenden Imaginationen und Projektionen „sorbischer Zukünfte“ erfassen, historisieren und miteinander in Beziehung setzen. Das sich dadurch entfaltende Forschungsfeld ist damit dezidiert interdisziplinär und erfordert die Zusammenarbeit von Geschichtswissenschaft, Ethnologie sowie Literatur-, Kultur-, Kunst- und Medienwissenschaften.
Wir laden Forschende aus allen für den skizzierten Forschungszusammenhang relevanten geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen dazu ein, Beitragsvorschläge für eine gemeinsame interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Zukünften der Sorben und/oder der Lausitz in Vergangenheit und Gegenwart einzureichen. Zu beachten ist dabei, dass das Vorhaben dezidiert historisierend und kulturwissenschaftlich-analytisch, nicht strategisch-planerisch ausgerichtet ist. Mögliche Schwerpunkte und Fragestellungen wären unter anderem:
- Literatur, Film, Theater etc. als Medien der Zukunftsproduktion
- Utopie, Dystopie und Science-Fiction als Erzählschemata für sorbische/Lausitzer Zukünfte
- Entwicklung, Verfall, Vermittlung und Revitalisierung als Zukunftsdiskurse
- die Zukunft der Sorben in innersorbischen vs. außersorbischen Diskursen
- sorbische Zukunftsdiskurse in verschiedenen nationalen, politischen, konfessionellen und sozialen Milieus
- Geschlechterrollen in der sorbischen/Lausitzer Zukunft
- Paradigmen und Kernkonzepte sorbischer Zukunftsvorstellungen im historischen Wandel (z.B. „die sorbische Insel“, „Aussterben“, „Wiedergeburt“, „die letzten Sprecher/Trachtenträgerinnen/…“ etc.)
- der Lausitzer Braunkohletagebau und die mit ihm verknüpften Zukunftsvorstellungen und -ängste
- Planung und Prognostik in der Sorbenpolitik
- Jugend und Jugendlichkeit in Diskursen um sorbische/Lausitzer Zukünfte
- Lausitzer Bauprojekte und -vorhaben (z.B. „Sorbisches Wissensforum“ am Lauenareal in Bautzen) und die sie umgebenden Zukunftsdiskurse
- Sorbische/Lausitzer Pop- und Subkultur und die Idee der „Zukunftsfähigkeit“
Geplant ist die Publikation einer themenspezifischen Sonderausgabe (special issue) der Fachzeitschrift Lětopis – Zeitschrift für Sorabistik und vergleichende Minderheitenforschung.[1] Bei Interesse schicken Sie bitte ein Abstract Ihres geplanten Aufsatzes (in sorbischer, deutscher oder englischer Sprache) mit einer Länge von max. einer Seite sowie kurze Angaben zu Ihrer wissenschaftlichen Biographie bis zum 31.12.2024 via Email an:
friedrich.pollack@serbski-institut.de und
willi_wolfgang.barthold@tu-dresden.de
Vor der Einreichung der Beiträge ist in der ersten Jahreshälfte 2025 ein Workshop mit allen ausgewählten Beitragenden zur Diskussion der vorhandenen Themen und Ansätze sowie zur weiteren Vernetzung geplant. Die fertigen Beiträge sollten dann voraussichtlich bis Oktober 2025 eingereicht werden.
Organisation:
Dr. Friedrich Pollack (Sorbisches Institut / Serbski institut)
Dr. Willi W. Barthold (Technische Universität Dresden/Techniska uniwersita Drježdźany)
Literaturverzeichnis
Hölscher, Lucian (Hg.) 2017: Die Zukunft des 20. Jahrhunderts. Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung. Frankfurt am Main.
Langner, Sigrun; Weiland, Marc (Hgg.) 2022: Die Zukunft auf dem Land. Imagination, Projektion, Planung, Gestaltung. Bielefeld (= Rurale Topografien; 14).
Nell, Werner; Weiland, Marc (Hgg.) 2021: Gutes Leben auf dem Land? Imaginationen und Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld (= Rurale Topografien; 12).
Radkau, Joachim 2017: Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute. München.
Seefried, Elke 2023: Geschichte der Zukunft (Version: 1.0), in: Docupedia-Zeitgeschichte. DOI: https://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok-2464 [27.08.2024].